Alegría statt Austeritätsfrust

Trotz Sparkurs weist das Stimmungsbarometer in Madrid steil nach oben: Besonders in den multikulturellen Vierteln La Latina und Lavapiés stößt man in der spanischen Hauptstadt auf nahezu ungetrübte Daseinsfreude.

Madrid
Peilt man an einem Samstagabend mit der U-Bahn-Linie 2 das Zentrum Madrids an, ist man in bester Gesellschaft: Gefühlte 90% der ca. 3,2-Millionen-Metropole tun es einem gleich. Dass es aufgrund dieses Andrangs empfindlich eng ist, schmälert die gute Laune der herausgeputzten Passagiere keineswegs: Sowohl das Ehepaar jenseits der 70 in Kostüm und Anzug als auch die jugendlichen Goths mit dramatisch schwarzem Augen-Make-up lachen und scherzen ausgelassen auf ihrem Weg zur Puerta del Sol (Tor zur Sonne), einem der beliebtesten Treffpunkte der Madrileñas und Madrileños: 1931 war er Ausrufungsort der Republik, heute finden sich die Menschen dort vorwiegend zum Einkaufen, Flanieren und Feiern ein. Kurz vor diesem Ziel sorgt die U-Bahn-Durchsage allerdings für Befremden: “Próxima estación Vodafone Sol“ tönt es unmissverständlich aus den Lautsprechern. Was der britische Mobilfunkanbieter im Herzen Madrids verloren hat, wird oberirdisch rasch klar. Straßenschilder sowie eine prominent platzierte Filiale des Unternehmens deuten auf eine Kooperation hin, die sich mit ein paar Klicks im Netz der Netze bestätigt: Im Jahr 2013 schloss das hoch verschuldete Madrid für den Gegenwert von drei Millionen Euro einen drei Jahre währenden Sponsoring-Vertrag mit dem Telekommunikationskonzern ab. Wie jedoch im Februar dieses Jahres in den spanischen Medien verlautbart, wird es Ende Mai 2016, nach dem Auslaufen dieses Abkommens, keine Verlängerung geben. Die finanziellen Ressourcen der Stadt mögen zwar ziemlich erschöpft sein, ihre Einwohner/innen sind es definitiv nicht, wie Eric, ein findiger Anfangzwanziger, beweist. Der gebürtige Madrilene, der dank seines englischen Vaters akzentfreies British English spricht, verdient sich auf der Puerta del Sol ein Zubrot: Positioniert neben einer extra dafür angefertigten, knapp über zwei Meter hohen Installation, die ein geflügeltes Herz mit der Aufschrift „From Madrid with Love“ zeigt, beobachtet er die vorbeischlendernden Urlauber/innen. Zücken diese ihre Kameras, macht Eric ihnen das Angebot, sie gerne vor seinem Werbeträger zu fotografieren. Als Gegenleistung bittet er um ein kleines Entgelt nach eigenem Ermessen. Bereitwillig lassen sich fast alle von ihm ablichten und ein paar Euro springen, haben sie damit doch eine nette Erinnerung in der Tasche. Unvergessliche Eindrücke sammeln kann man auch im Stadtteil La Latina, der mit seinen hübschen Plätzen, verwinkelten Gassen und entspannt-alternativem Flair nicht nur zu den ältesten, sondern auch zu den charmantesten Vierteln der Metropole zählt: Zu seinem traditionellen Sonntagsmarkt Rastro (Weg), einem geradezu volksfestartigen Event, strömen allwöchentlich Tausende, um sich günstig mit Kleidung, Accessoires oder Hausrat einzudecken. Der einzige Haken: Ein Gutteil der Waren fällt unter die Kategorie „Made in China“. Ist einem das Schnäppchenjagen dadurch vergällt, empfiehlt es sich, das geschäftige Treiben aus einem Straßencafé zu verfolgen, während man Tapas (Häppchen) wie Tortilla de Patatas (Weißbrot mit Kartoffelomelettebelag) oder Chocolate con Churros, in sämige Schokoladensauce getauchte, frittierte Teigstücke nascht. Letztere werden gerne zur Nachmittagsjause verzehrt, gelten aber auch als kraftspendendes Frühstück. Einen kalorienfreien Energiekick löst hingegen das Auftauchen einer neunköpfigen, exklusiv weiblichen Performance-Truppe beim Rastro aus: Die einheitlich in schwarzen Tops, Leggings und ozeanblauen Flatterröcken gekleideten jungen Frauen schlagen mit Verve auf vor ihre Taillen geschnallte Trommeln ein, während sie leichtfüßig durch die Straßen von La Latina tanzen. Vermag man sich an diesen temperamentvollen, pure Lebensfreude versprühenden Grazien nicht sattzusehen und folgt ihnen spontan, steht man wenig später vor „La Tabacalera“, einer ehemaligen Tabakfabrik im benachbarten Stadtteil Lavapiés. Auf insgesamt 9.200 Quadratmetern ihres früheren Areals hat sich ein gemeinnütziger, selbstverwalteter Kunst- und Kulturraum etabliert, der bei freiem Eintritt eine Fülle an Workshops, Talks, Ausstellungen und Konzerten von und für Anrainer/innen sowie für alle anderen anbietet: Selbst ohne amtlichen Wohnsitz in Madrid kann hier jede/r Projektideen umsetzen, sofern diese gegenseitiges Verständnis zwischen den Kulturen, Geschlechtern und Generationen fördern. Ein Anspruch, der primär in der heterogenen Demografie Lavapiés‘ begründet ist: Als „Einwanderergegend“ verfügt der Distrikt über eine hohe ethnische Diversität mit unübersehbar indisch-/bengalischen, arabischen und afrikanischen Bevölkerungsanteilen. Spaziert man durch die steil ansteigenden, engen Straßen mit ihren idyllisch anmutenden Altbauten mit den schmiedeeisernen Balkonen, sieht man leider auch unschöne Szenen wie z.B. Polizeibeamte, die Schwarzafrikaner nach Drogen filzen. Im Gegensatz zu diesen meist jungen Männern haben die älteren Herren karibischen Ursprungs ihren Platz offensichtlich gefunden: Fein gemacht mit Anzug und Hut sitzen sie fröhlich plaudernd auf den öffentlichen Bänken der Plaza de Lavapiés und wachen über das bewegte Geschehen ihres Viertels - eifrig Bestellungen aufnehmende Kellner, zur nahen Universitätsbibliothek eilende Studierende, Mütter, die mit ihren trotzigen Kleinkindern argumentieren. Definitiv angekommen in Lavapiés sind auch die arabischen und indischen Communities: Sie stellen mit ihren ausgeklügelten Auberginen-, Bohnen-, oder Couscous-Gerichten bzw. würzigen Currys, Dals und Samosas eine enorme Bereicherung der Gastro-Szene dar, die sowohl einheimische als auch internationale Besucher/innen in Scharen anzieht. Die Buntheit des Barrios ist so groß, dass man mancherorts sogar meint, mitten in Bollywood gelandet zu sein: Wenn etwa Shah Rhuk Khan, der Brad Pitt des indischen Subkontinents, von einem vergilbten Foto in der Auslage eines Asia-Importwaren-Shops lächelt oder ein Klingelton Bilder kunstfertiger Banghra-Tanzeinlangen heraufbeschwört. Ein facettenreiches Ambiente, das nur „Sin Barreras“ (ohne Grenzen) möglich ist, wie der T-Shirt-Aufdruck eines um die Ecke biegenden Paketlieferanten mit allem Anschein nach südamerikanischen Wurzeln verrät. –mh STARTSEITE >