Mediterranes Savoir-vivre und Shabby Container-Chic

Wer Zürich auf ein Finanzzentrum mit lieblicher Spitztürmchen-und Giebeldach-Ästhetik reduziert, irrt. Die Schweizer Kulturmetropole begeistert mit südlichem Flair und (Post-)Industrie-Charme.

Zürich Trotz ihrer nur knapp 400.000 Einwohner/innen ist Zürich die größte Stadt der Schweiz und weit über die Landesgrenzen hinaus als Kapitalumschlagplatz sowie für seine Lebensqualität berühmt: Bei internationalen Umfragen zu Wohlbefinden und Zufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer Stadt rangiert „Züri“, wie die Einheimischen salopp sagen, regelmäßig in den Top 3. Was immer man von der Repräsentativität solcher Statistiken halten mag, vor Ort wird rasch klar: Gelegenheiten zum gepflegten Nichtstun gibt es hier zuhauf. Eindeutiges Herzstück dieser Metropole im Kleinformat ist der Zürichsee. Schlendert man an einem sonnigen Nachmittag vom Bellevueplatz kommend den Utoquai entlang, könnte der Ausblick kaum idyllischer sein: Die strahlend blaue, spiegelglatte Wasseroberfläche und die schneebedeckten Berggipfel am Horizont muten geradezu bilderbuchkitschig an. Fast zweifelt man daran, sich in einem urbanen Schweizer Umfeld zu befinden, vielmehr wähnt man sich im Tessin bzw. an einem oberitalienischen See. Ein Eindruck, der sich verstärkt, sobald die „Pumpstation“ erreicht ist. Die Gäste dieses Outdoor-Restaurants mit bester Sicht auf das rege Treiben am Ufer machen, wie es im südlichen Nachbarland so schön heißt, durchwegs eine „Bella Figura“: Wie frisch aus den Ei gepellt, aber mit nonchalanter Lässigkeit - so etwa tragen die Männer vorzugsweise Tod`s-Loafers an ihren (selbstverständlich sockenlosen) Füßen - sitzen sie bei ihrem „Apéro“, der eidgenössischen Variante des italienischen Apéritivo, einem Snack aus Wurst, Käse, Brot und Essiggurken. Dazu gönnt man sich ein Glas Rot- oder Weißwein. Der Genuss erlesener Gaumenfreuden (allen voran der nationalen Spezialitäten „Chäs“ und „Schoggi“) und die Hingabe an den Augenblick - traditionell eher südlicheren Regionen zugeordnet - erweist sich in Zürich als ausgeprägt. Keine Spur von protestantischer Verzichtsethik in der Stadt des Reformators Ulrich Zwingli (1484-1531), dafür umso mehr sinnliche Daseinsfreude, die sich auch architektonisch äußert. Überall stößt man auf Oasen der Rekreation: Lauschige Plätze mit gemütlich plätschernden Springbrunnen, die mit einladender Gastronomie zum Verweilen verführen, wie etwa der in einer Seitengasse der Bahnhofstraße, der exklusivsten Einkaufsmeile der Stadt gelegene Centralhof, wo nach dem Windowshopping zumindest ein „Kaffi“ drinnen ist. Verspürt man bei so viel Beschaulichkeit das Bedürfnis nach einem Kontrastprogramm, ist ein Abstecher nach Zürich West angesagt. In dem ehemaligen Industrie-Areal zwischen Bahnhof Hardbrücke und Escher-Wyss Platz, dessen Fabriken schon vor langer Zeit stillgelegt wurden, verliert sich die Adrettheit Zürichs. Hier dominieren Beton, Stahl, Ziegel, was für eine deutlich rauere, urbanere Optik sorgt. Selbst wenn es sich dabei um so schmuck revitalisierte Backsteinbauten wie jene in der Viaduktstraße handelt, die - auch wenn keine U-Bahn drüberfährt - den Wiener Stadtbahnbögen ähneln: Sie beherbergen eine Vielzahl an Restaurants, Läden und Veranstaltungs-Locations und haben das Viertel in eine trendige Ausgeh- und Shoppingzone verwandelt. Unübersehbare Anlaufstelle von Zürich West ist auch der Freitag Flagship Store in der Geroldstraße. Selbstredend ist der Stammsitz der gleichnamigen Schweizer Kult-Marke nicht etwa in einem herkömmlich zeitgemäßen Beton-Stahl-Spiegelglas-Konstrukt untergebracht. Nein, für die aus recycleten LKW-Planen, Fahrradschläuchen, Autogurten und Airbags hergestellten, stylish-bunten Umhängetaschen des Labels bedurfte es natürlich eines adäquat originellen Verkaufsraums. Die Lösung war ein 26 Meter hoher Turm aus 17 übereinander gestapelten Frachtcontainern, dessen Dach auch als Aussichtsplattform dient. Allerdings sollte man für den Aufstieg auf der himmelwärts dezent schwankenden, quietschenden Stahltreppe dieses cool improvisiert wirkenden Schachtelobjekts schwindelfrei sein. Den inneren Schweinehund mittels mentaler Ziel-Fokussierung zu überwinden, lohnt sich aber: Oben angelangt offenbart sich einem die kühle Schienen-Schönheit des Bahnhofs Hardbrücke, eingebettet ins Zürcher Häusermeer. Gleich neben dem Freitag-Tower findet sich ein weiteres Highlight von Zürich West: Frau Gerolds Garten ist in der warmen Jahreszeit ein Terrassen-Restaurant mit mehreren Bars, zu dem auch eine großzügige, mit Gemüse, Kräutern und Früchten bepflanzte Grünfläche gehört. Das dort Geerntete wird gemäß dem Motto „frisch, saisonal, regional“ sogleich in der Küche verarbeitet. Wer möchte, kann selbst beim Kultivieren aktiv werden oder an Urban Gardening Workshops teilnehmen. Setzt der Winter diesen Tätigkeiten ein vorübergehendes Ende, bedeutet das aber nicht, dass bei Frau Gerold dicht gemacht wird: Dann übersiedelt man in den mit bequemen Fauteuils und kuscheliger Kaminlounge ausgestatteten, nicht minder attraktiven Holzpavillon und zelebriert die Fondue-Saison. Verlangt es einen zum Ausgleich zu Müßiggang und Schlemmerei nach geistiger Nahrung, wird man in der Kunst fündig: Zurück im Zentrum empfiehlt sich das kleine, aber feine Literaturmuseum Strauhof in der Augustinergasse, das sich in seinen Ausstellungen mit Vorliebe kritisch den Ist-Zustand hinterfragenden Autorinnen und Autoren widmet. Wer hingegen besonders für lautmalerische „Dada“-Poesie schwärmt, liegt im Cabarét Voltaire richtig. Als eine Mischung aus Theater, Galerie und Bar wurde es am 5. Februar 1916 von Hugo Ball und Emmy Hennings eröffnet und war gleichzeitig der Geburtsort dieser sich gegen die herrschenden Verhältnisse und Regeln der Bourgeoisie wendenden Kunstrichtung. Heute sind in seinen Räumlichkeiten in der Spiegelgasse, die sich in den mit Boutiquen und Bars übersäten engen Gassen des Altstadtviertels Niederdorf befindet, ein Ausstellungsraum mit Museumsshop und ein Café untergebracht. Ein Tipp für interessierte Kurzentschlossene: Aus Anlass des 100. Geburtstages von „Dada“ gibt es noch bis Ende dieses Jahres die Gelegenheit, beim Ausgangspunkt Cabarét Voltaire an Führungen zu weiteren historischen Plätzen der Kunstströmung teilzunehmen. –mh STARTSEITE >
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