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Lucy, 23, heißt eigentlich Linda. Sie hat zwar keinen Schulabschluss, aber umso ambitioniertere Pläne. Und sie ist die Icherzählerin in Petra Piuks erstem Roman „Lucy fliegt“. Das Kerosin, das ihren Motor befeuert, ist der Traum, einmal ihren eigenen Oscar in Händen zu halten.

Lucy fliegt Beginnen wir mit einer Warnung: Lucy erzählt frisch von der Leber, und das kann in ihrem Fall ziemlich explizit werden. Denn um ihr Ziel (Hollywood) zu erreichen, geht sie zwar nicht über Leichen, aber gelegentlich mit Filmleuten ins Bett, die ihr nützlich sein könnten. Diese Bemühungen katapultieren sie immerhin in die Casting-Show eines Privatsenders. Dem Gewinner winkt eine Minirolle in einem US-Spielfilm – Grund genug, die Facebook-Adresse schon mal auf Hollywood umzustellen. Der Peinlichkeitsfaktor ist also hoch. Und dann ist da noch Lucys ausgeprägte Aversion gegen vollständige deutsche Sätze im allgemeinen und Hilfsverben im besonderen. Nicht nur für zarte Gemüter bedeutet es daher eine gewisse Überwindung, sich auf die Sprache des Romans einzulassen, die genauso schrill daherkommt wie seine Protagonistin. Denn Lucy fliegt ist knallharte Rollenprosa, wie sie dem Leser in dieser Intensität zuletzt etwa bei Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ hingeknallt wurde. Auch bei Piuk schweißt einen diese Erzählweise fast gegen den eigenen Willen mit der Hauptfigur zusammen. Man leidet und fiebert mit, auch wenn sich bald abzeichnet, dass ein klassisches Hollywood-Happy End für Lucy nicht vorgesehen ist; schließlich lässt sie keines der Fettnäpfchen aus, die ihr das Casting-Team fürsorglich in den Weg stellt, bevor die Kameras kommen, um alles für ein fremdschämsüchtiges Fernsehpublikum dokumentieren. Kling nach abseitiger Unterhaltung, ist aber Literatur. Ein wenig fühlt man sich beim Lesen sogar an Fräulein Else erinnert, denn ähnlich wie bei Schnitzler geht es um eine junge Frau, die unter dem Druck der Verhältnisse geradewegs auf eine Psychose zusteuert. Und immer noch ist der innere Monolog, den einst der Wiener Arzt Arthur Schnitzler zur Kunstform erhoben hat, das stärkste literarische Mittel, um diese Kämpfe nachzuzeichnen. Lucys Bewusstseinstrom macht nach und nach deutlich, wie aus Linda Lucy geworden ist, während sie – von Flugangst gepeinigt – der Landung entgegenfiebert. Dabei blickt man der Protagonistin mitunter tiefer in das Herz, als einem lieb ist, denn als überzeugte Exhibitionstin trägt sie es auch bei ihren Selbstgesprächen auf der Zunge. Während man ihren Verlusten und Verlustängsten nachspürt, versteht man die verzweifelte Strategie, den Mangel an Selbstwert durch „Berühmtheit“ in den Griff zu kriegen. Gelegentlich muss man sich die Wirklichkeit aber auch zwischen den Zeilen zusammenreimen – denn Lucy lebt in einer Welt, in der sich Wunschträume und Realität vermischen, und entsprechend unzuverlässlich sind ihre Schilderungen. So wird der Leser ständig hin und hergerissen zwischen Lucys Perspektive und dem Verlangen, eine konsistente Sicht auf die Dinge zu gewinnen. Was Lucy verschweigt, ist somit ein intergrales Spannungselement dieses Romans. Dazu komm das erzählerische Mittel des Kapitelvorspanns, der teilweise wie eine Regieanweisung zu lesen ist – die Stimme aus dem Off, die den zynischen Reality-TV-Markt repräsentiert. Während Lucy vom Sender das Image der „Schlampe“ aufgeprägt wird, führt sie uns vor, dass unsere eigene Schamlosigkeit (= die der TV-Öffentlichkeit) mit ihrer eigenen locker mithalten kann. Lucy fliegt ist somit – ohne dass die Autorin mit dem Zeigefinger darauf hinweisen muss – auch ein medienkritisches Buch. Was Petra Piuk auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, vor dem Hintergrund eines Einzelschicksals die Problematik dieses hochaktuellen Genres sehr unterhaltsam aufzuzeigen. –ab STARTSEITE >

Infobox

Petra Piuk, Lucy fliegt.
Kremayr & Scheriau, 2016
2016, 188 Seiten, EUR 19,90